Mein Lebensgang
GA 28
Chapter I
[ 1 ] In die öffentlichen Besprechungen der von mir gepflegten Anthroposophie sind seit einiger Zeit Angaben und Beurteilungen über meinen Lebensgang verflochten worden. Und aus dem, was in dieser Richtung gesagt worden ist, sind Schlüsse gezogen worden über den Ursprung dessen, was man als Wandlungen in meiner geistigen Entwickelung ansieht. Demgegenüber haben Freunde die Ansicht ausgesprochen, daß es gut wäre, wenn ich selbst etwas über meinen Lebensgang schriebe.
[ 2 ] Ich muß gestehen, daß dies nicht in meinen Neigungen liegt. Denn es war stets mein Bestreben, das, was ich zu sagen hatte, und was ich tun zu sollen glaubte, so zu gestalten, wie es die Dinge, nicht das Persönliche forderten. Es war zwar immer meine Meinung, daß das Persönliche auf vielen Gebieten den menschlichen Betätigungen die wertvollste Färbung gibt. Allein mir scheint, daß dies Persönliche durch die Art, wie man spricht und handelt, zur Offenbarung kommen muß, nicht durch das Hinblicken auf die eigene Persönlichkeit. Was aus diesem Hinblicken sich ergeben kann, ist eine Sache, die der Mensch mit sich selbst abzumachen hat.
[ 3 ] Und so kann ich mich zu der folgenden Darstellung nur entschließen, weil ich verpflichtet bin, manches schiefe Urteil über den Zusammenhang meines Lebens mit der von mir gepflegten Sache durch eine objektive Beschreibung in das rechte Licht zu stellen, und weil mir das Drängen freundlich gesinnter Menschen im Hinblick auf diese Urteile als begründet erscheint. Meine Eltern hatten in Niederösterreich ihre Heimat. Mein Vater ist in Geras, einem ganz kleinen Ort im niederösterreichischen Waldviertel, geboren, meine Mutter in Horn, einer Stadt in der gleichen Gegend.
[ 4 ] Seine Kindheit und Jugend hat mein Vater im engsten Zusammenhange mit dem Prämonstratenserstifte in Geras verlebt. Er hat stets mit einer großen Liebe auf diese Zeit seines Lebens zurückgeblickt. Er erzählte gerne, wie er im Stifte Dienste geleistet hat und wie er von den Mönchen unterrichtet worden ist. Er war dann später Jäger in gräflich-Hoyos'schen Diensten. Diese Familie hatte ein Besitztum in Horn. Da lernte mein Vater die Mutter kennen. Er verließ dann den Jagddienst und trat als Telegraphist bei der österreichischen Südbahn ein. Er war zuerst an einer kleinen Bahnstelle in der südlichen Steiermark angestellt. Dann wurde er nach Kraljevec an der ungarisch-kroatischen Grenze versetzt. In dieser Zeit fand die Verheiratung mit meiner Mutter statt. Deren Mädchenname ist Blie. Sie stammt aus einer alten Horner Familie. In Kraljevec bin ich am 27. Februar 1861 geboren. - So ist es gekommen, daß mein Geburtsort weit abliegt von der Erdgegend, aus der ich stamme.
[ 5 ] Sowohl mein Vater wie meine Mutter waren echte Kinder des herrlichen niederösterreichischen Waldlandes nördlich von der Donau. Es ist eine Gegend, in die erst spät die Eisenbahn eingezogen ist. Geras wird heute noch nicht von ihr berührt. - Meine Eltern liebten, was sie in der Heimat erlebt hatten. Und wenn sie davon sprachen, empfand man instinktiv, wie sie mit ihrer Seele diese Heimat nicht verlassen hatten, trotzdem sie das Schicksal dazu bestimmt hatte, den größten Teil ihres Lebens fern von ihr durchzurmachen. Als dann mein Vater nach einem arbeitsreichen Leben sich in den Ruhestand versetzen ließ, zogen sie sogleich wieder dahin - nach Horn.
[ 6 ] Mein Vater war ein durch und durch wohlwollender Mann, aber mit einem Temperament, das namentlich, als er noch jung war, leidenschaftlich aufbrausen konnte. Der Eisenbahndienst war ihm Pflicht; mit Liebe hing er nicht an ihm. Als ich noch Knabe war, mußte er zu Zeiten drei Tage und drei Nächte hindurch Dienst leisten. Dann wurde er für vierundzwanzig Stunden abgelöst. So bot ihm das Leben nichts Farbiges, nur Grauheit. Gerne beschäftigte er sich damit, die politischen Verhältnisse zu verfolgen. Er nahm an ihnen den lebhaftesten Anteil. Meine Mutter mußte, da Glücksgüter nicht vorhanden waren, in der Besorgung der häuslichen Angelegenheiten aufgehen. Liebevolle Pflege ihrer Kinder und der kleinen Wirtschaft füllten ihre Tage aus.
[ 7 ] Als ich einundeinhalbes Jahr alt war, wurde mein Vater nach Mödling bei Wien versetzt. Dort blieben meine Eltern ein halbes Jahr. Dann wurde meinem Vater die Leitung der kleinen Südbahnstation Pottschach in Niederösterreich, nahe der steirischen Grenze, übertragen. Ich verlebte da die Zeit von meinem zweiten bis zu meinem achten Jahre. Eine wundervolle Landschaft umschloß meine Kindheit. Der Ausblick ging auf die Berge, die Niederösterreich mit Steiermark verbinden: Der «Schneeberg», Wechsel, die Raxalpe, der Semmering. Der Schneeberg fing mit seinem nach oben hin kahlen Gestein die Sonnenstrahlen auf, und was diese verkündeten, wenn sie vom Berge nach dem kleinen Bahnhof strahlten, das war an schönen Sommertagen der erste Morgengruß. Der graue Rücken des «Wechsel » bildete dazu einen ernst stimmenden Kontrast. Das Grün, das von überall her in dieser Landschaft freundlich lächelte, ließ die Berge gleichsam aus sich hervorsteigen. Man hatte in der Ferne des Umkreises die Majestät der Gipfel, und in der unmittelbaren Umgebung die Anmut der Natur.
[ 8 ] Auf dem kleinen Bahnhofe aber vereinigte sich alles Interesse auf den Eisenbahnbetrieb. Es verkehrten zwar damals in dieser Gegend die Züge nur in größeren Zeitabständen; aber wenn sie kamen, waren zumeist eine Anzahl von Menschen des Dorfes, die Zeit hatten, am Bahnhof versammelt, um Abwechslung in das Leben zu bringen, das ihnen sonst anscheinend eintönig vorkam. Der Schullehrer, der Pfarrer, der Rechnungsführer des Gutshofes, oft der Bürgermeister erschienen da.
[ 9 ] Ich glaube, daß es für mein Leben bedeutsam war, in einer solchen Umgebung die Kindheit verlebt zu haben. Denn meine Interessen wurden stark in das Mechanische dieses Daseins hineingezogen. Und ich weiß, wie diese Interessen den Herzensanteil in der kindlichen Seele immer wieder verdunkeln wollten, der nach der anmutigen und zugleich großzügigen Natur hin ging, in die hinein in der Ferne diese dem Mechanismus unterworfenen Eisenbahnzüge doch jedesmal verschwanden.
[ 10 ] In all das hinein spielte der Eindruck von einer Persönlichkeit, die von einer großen Originalität war: die des Pfarrers von St. Valentin, einem Orte, der in etwa dreiviertel Stunden von Pottschach aus zu Fuß erreicht werden konnte. Dieser Pfarrer kam gerne in mein Elternhaus. Er machte fast täglich seinen Spaziergang zu uns und hielt sich stets längere Zeit auf. Er war der Typus des liberalen katholischen Geistlichen, tolerant, leutselig. Ein robuster, breitschultriger Mann. Er war witzig, sprach gerne in Schnurren und liebte es, wenn die Menschen um ihn lachten. Und man lachte noch weiter über das, was er gesagt hatte, wenn er schon lange fort war. Er war ein Mann des praktischen Lebens; und er gab auch gern gute praktische Ratschläge. Ein solcher hat in meiner Familie dauernd fortgewirkt. Die Bahngleise in Pottschach waren an den Seiten begleitet mit Akazienbäumen (Robinien). Wir gingen einmal den schmalen Gehweg, der längs dieser Baumreihe führte. Da sagte er: «Ach, welch schöne Akazienblüten sind da.» Und flugs schwang er sich auf einen der Bäume und pflückte eine große Menge dieser Blüten. Dann breitete er sein sehr großes rotes Taschentuch aus—er schnupfte leidenschaftlich—, wickelte sorgfältig die Beute ein und nahm das «Binkerl» unter den Arm. Dann sagte er: «Sie haben es gut, daß Sie soviel Akazien haben.» Mein Vater war erstaunt und erwiderte: «Ja, was können uns die nützen?» «Waaas», sagte der Pfarrer, «wissen Sie denn nicht, daß man die Akazienblüten backen kann wie den Hollunder, und daß sie viel besser schmecken, weil sie ein viel feineres Aroma haben.» Und von der Zeit an gab es oft, wenn dazu Gelegenheit war, von Zeit zu Zeit auf unserem Familientisch «gebackene Akazienblüten».
[ 11 ] In Pottschach wurden meinen Eltern noch eine Tochter und ein Sohn geboren. Eine weitere Vergrößerung der Familie fand nicht statt.
[ 12 ] Eine sonderbare Eigenheit hatte ich als ganz kleiner Junge. Es mußte von dem Zeitpunkte an, da ich selbständig essen konnte, sehr auf mich acht gegeben werden. Denn ich hatte die Meinung ausgebildet, daß ein Suppenteller oder eine Kaffeetasse nur zum einmaligen Gebrauch bestimmt sei. Und so warf ich denn jedesmal, wenn ich unbeachtet war, nach eingenommenem Essen, Teller oder Tasse unter den Tisch, daß sie in Scherben zerbrachen. Kam dann die Mutter heran, dann empfing ich sie mit dem Ausruf: «Mutter, ich bin schon fertig.»
[ 13 ] Es kann dies bei mir nicht Zerstörungswut gewesen sein. Denn meine Spielsachen behandelte ich mit peinlicher Sorgfalt und hielt sie lange in gutem Zustande. Unter diesen Spielsachen fesselten mich besonders diejenigen, deren Art ich auch heute für besonders gut halte. Es waren Bilderbücher mit beweglichen Figuren, die unten an Fäden gezogen werden können. Man verfolgte kleine Erzählungen an diesen Bildern, denen man einen Teil ihres Lebens dadurch selbst gab, daß man an den Fäden zog. Vor diesen Bilderbüchern saß ich oft stundenlang mit meiner Schwester. Ich lernte an ihnen auch. wie von selbst, die Anfangsgründe des Lesens.
[ 14 ] Mein Vater war darauf bedacht, daß ich früh lesen und schreiben lernte. Als ich das schulpflichtige Alter erreicht hatte, wurde ich in die Dorfschule geschickt. Der Schullehrer war ein alter Herr, dem das Schule-Halten eine lästige Beschäftigung war. Mir aber war das Unterrichtet-Werden von ihm auch eine lästige Beschäftigung. Ich glaubte überhaupt nicht, daß ich durch ihn etwas lernen könne. Denn er kam mit seiner Frau und seinem Söhnlein oft in unser Haus. Und dieses Söhnlein war nach meinen damaligen Begriffen ein Schlingel. Da hatte ich es mir denn in den Kopf gesetzt: wer einen solchen Schlingel zum Sohn hat, von dem kann man nichts lernen. Nun aber kam auch noch etwas «ganz Schreckliches» vor. Einmal machte sich dieser Schlingel, der auch in der Schule war, den Spaß, mit einem Holzspan in alle Tintenfässer der Schule zu tauchen und rings um sie Kreise aus Tintenklecksen zu bilden. Der Vater bemerkte dies. Die Mehrzahl der Schüler waren schon fort. Ich, der Lehrersohn und noch ein paar Buben waren zurückgeblieben. Der Schullehrer war außer sich, schimpfte fürchterlich. Ich war überzeugt, er wurde sogar «brüllen», wenn er nicht ständig heiser gewesen wäre. Trotz seines Tobens ging ihm durch unser Benehmen ein Licht darüber auf, wer der Übeltäter war. Aber da kam es doch anders. Die Lehrerwohnung stieß an das Schulzimmer. Die «Frau Oberlehrerin» hatte die Aufregung gehört, kam herein, hatte wilde Augen und fuchtelte mit den Armen. Für sie war es klar, daß ihr Söhnlein das Ding nicht gedreht haben konnte. Sie beschuldigte mich. Ich lief davon. Mein Vater wurde wütend, als ich die Sache nach Hause brachte. Und als die Lehrersleute wieder zu uns kamen, da kündigte er ihnen mit der größten Deutlichkeit die Freundschaft und erklärte: «Mein Bub darf keinen Schritt mehr in Ihre Schule machen.» Und nun übernahm mein Vater selbst den Unterricht. Und so saß ich denn stundenlang neben ihm in seiner Kanzlei, und sollte schreiben und lesen, während er zwischendurch die Amtsgeschäfte verrichtete.
[ 15 ] Ich konnte auch bei ihm kein rechtes Interesse zu dem fassen, was durch den Unterricht an mich herankommen sollte. Für das, was mein Vater schrieb, interessierte ich mich. Ich wollte nachmachen, was er tat. Dabei lernte ich so manches. Zu dem, was von ihm zugerichtet wurde, daß ich es zu meiner Ausbildung tun sollte, konnte ich kein Verhältnis finden. Dagegen wuchs ich auf kindliche Art in alles hinein, was praktische Lebensbetätigung war. Wie der Eisenbahndienst verläuft, was alles mit ihm verbunden ist, erregte meine Aufmerksamkeit. Besonders aber war es das Naturgesetzliche, das mich gerade in seinen kleinen Ausläufern anzog. Wenn ich schrieb, so tat ich das, weil ich eben mußte; ich tat es sogar möglichst schnell, damit ich eine Seite bald vollgeschrieben hatte. Denn nun konnte ich das Geschriebene mit Streusand, dessen sich mein Vater bediente, bestreuen. Und da fesselte mich dann, wie schnell der Streusand mit der Tinte auftrocknete und welches stoffliche Gemenge er mit ihr gab. Ich probierte immer wieder mit den Fingern die Buchstaben ab; welche schon aufgetrocknet seien, welche nicht. Meine Neugierde dabei war sehr groß, und dadurch kam ich zumeist zu früh an die Buchstaben heran. Meine Schriftproben nahmen dadurch eine Gestalt an, die meinem Vater gar nicht gefiel. Er war aber gutmütig und strafte mich nur damit, daß er mich oft einen unverbesserlichen «Patzer» nannte. - Es war dies aber nicht die einzige Sache, die sich bei mir aus dem Schreiben entwickelte. Mehr als meine Buchstabenformen interessierte mich die Gestalt der Schreibfeder. Wenn ich das Papiermesser meines Vaters nahm, so konnte ich es in den Schlitz der Feder hineintreiben und so physikalische Studien über die Elastizität des Federnmateriales machen. Ich bog dann allerdings die Feder wieder zusammen; aber die Schönheit meiner Schriftwerke litt gar sehr darunter.
[ 16 ] Das war auch die Zeit, wo ich mit meinem Sinn für Erkenntnis der Naturvorgänge mitten hineingestellt wurde zwischen das Durchschauen eines Zusammenhanges und die «Grenzen der Erkenntnis». Etwa drei Minuten von meinem Elternhause entfernt befand sich eine Mühle. Die Müllersleute waren die Paten meiner Geschwister. Wir wurden in der Mühle gern gesehen. Ich verschwand gar oft dahin. Denn ich «studierte» mit Begeisterung den Mühlenbetrieb. Da drang ich in das «Innere der Natur». Noch näher aber lag eine Spinnfabrik. Die Rohmaterialien für diese kamen auf der Bahnstation an; die fertigen Erzeugnisse gingen ab. Ich war bei alledem dabei, was in die Fabrik verschwand, und was sich wieder aus ihr offenbarte. Einen Blick «ins Innere» zu tun, war streng verboten. Es kam nie dazu. Da waren die «Grenzen der Erkenntnis». Und ich hätte diese Grenzen so gerne überschritten. Denn fast jeden Tag kam der Direktor der Fabrik in Geschäftssachen zu meinem Vater. Und dieser Direktor war für mich Knaben ein Problem, das mir das Geheimnis des «Innern» des Werkes wie mit einem Wunder verhüllte. Er war an vielen Stellen seines Körpers mit weissen Flocken bedeckt; er machte Augen, die von dem Maschinenwerk eine gewisse Unbeweglichkeit bekommen hatten. Er sprach rauh wie in einer mechanisierten Sprache. «Wie hängt dieser Mann mit dem zusammen, was jene Mauern umschließen?» Dies unlösbare Problem stand vor meiner Seele. Ich fragte aber auch niemanden nach dem Geheimnis. Denn es war meine Knabenmeinung, daß es nichts hilft, wenn man über eine Sache frägt, die man nicht sehen kann. So lebte ich dahin zwischen der freundlichen Mühle und der unfreundlichen Spinnfabrik.
[ 17 ] Einmal gab es auf der Bahnstation etwas ganz «Erschütterndes». Ein Eisenbahnzug mit Frachtgütern sauste heran. Mein Vater sah ihm entgegen. Ein hinterer Wagen stand in Flammen. Das Zugspersonal hatte nichts davon bemerkt. Der Zug kam bis zu unserer Station brennend heran. Alles, was sich da abspielte, machte einen tiefen Eindruck auf mich. In einem Wagen war Feuer durch einen leicht entzündlichen Stoff entstanden. Lange Zeit beschäftigte mich die Frage, wie dergleichen geschehen kann. Was mir meine Umgebung darüber sagte, war, wie in ähnlichen Dingen, für mich nicht befriedigend. Ich war voller Fragen; und mußte diese unbeantwortet mit mir herurmtragen. So wurde ich acht Jahre alt.
[ 18 ] Als ich im achten Lebensjahre stand, übersiedelte meine Familie nach Neudörfl, einem kleinen ungarischen Dorfe. Das liegt unmittelbar an der Grenze gegen Niederösterreich hin. Diese Grenze wird durch den Laytha-Fluß gebildet. Die Bahnstation, die nun mein Vater zu besorgen hatte, liegt an dem einen Ende des Dorfes. Man hatte eine halbe Stunde bis zum Grenzfluß zu gehen. Nach einer weiteren halben Stunde kam man nach Wiener-Neustadt.
[ 19 ] Die Alpengebirge, die ich in Pottschach ganz in der Nähe sah, waren nun nur noch in der Ferne sichtbar. Aber sie standen eben doch erinnerungweckend im Hintergrunde, wenn man auf die kleineren Berge blickte, die in kurzer Zeit von dem neuen Wohnorte meiner Familie zu erreichen waren. Mäßige Erhebungen mit schönen Waldungen begrenzten den einen Ausblick; der andere konnte über ebenes, mit Feld und Wald bedecktes Land nach Ungarn hineinschweifen. Von den Bergen war mir besonders der unbegrenzt lieb geworden, der in drei Viertelstunden zu besteigen war. Er trug auf seinem Gipfel eine Kapelle, in der ein Bildnis der hl. Rosalia war. Diese Kapelle bildete den Endpunkt eines Spazierganges, den ich erst oft mit meinen Eltern und Geschwistern und später gerne allein machte. Solche Spaziergänge machten auch dadurch eine besondere Freude, daß man in der entsprechenden Jahreszeit mit reichlichen Gaben der Natur beschenkt zurückkehren konnte. Denn in den Wäldern waren Brombeeren, Himbeeren, Erdbeeren zu finden. Man konnte oft eine innige Befriedigung daran haben, durch ein anderthalbstündiges Sammeln eine schöne Zugabe zu dem Familienabendbrot hinzuzufügen, das sonst für jeden nur aus einem Butterbrot oder einem Stück Brot mit Käse bestand.
[ 20 ] Noch anderes Erfreuliches brachte das Herumstreifen in diesen Wäldern, die Gemeindegut waren. Die Leute des Dorfes holten von dort ihren Holzvorrat. Die Ärmeren sammelten ihn persönlich, die Wohlhabenderen ließen ihn durch Knechte besorgen. Man lernte sie alle kennen, diese meist gemütvollen Menschen. Denn sie hatten stets Zeit zu plaudern, wenn der «Steiner-Rudolf» zu ihnen hinzutrat. «Na du willst di a wieder a bissl dagehn, Steiner-Rudolf», so fing es an, und dann wurde von allem möglichen geredet. Die Leute achteten nicht darauf, daß sie doch ein Kind vor sich hatten. Denn sie waren im Grunde in ihrer Seele auch noch Kinder, auch wenn sie schon sechzig Jahre zählten. Und so wußte ich aus diesen Erzählungen eigentlich fast alles, was auch im Innern der Häuser dieses Dorfes vor sich ging.
[ 21 ] Eine halbe Stunde Fußweg von Neudörfl entfernt ist Sauerbrunn mit einer Quelle von eisen- und kohlensäurehaltigem Wasser. Der Weg dahin geht der Eisenbahnlinie entlang und teilweise durch schöne Wälder. Wenn Schulferien waren, ging ich jeden Tag ganz früh morgens dahin, beladen mit einem «Blutzer». Das ist ein Wasserbehälter aus Ton. Der meinige faßte etwa drei bis vier Liter. Den konnte man ohne Entgelt an der Quelle füllen. Beim Mittag konnte dann die Familie das wohlschmeckende perlende Wasser genießen.
[ 22 ] Gegen Wiener-Neustadt und weiter gegen die Steiermark zu fallen die Berge in die Ebene ab. Durch diese schlängelt sich der Laytha-Fluß hindurch. Am Bergabhange lag ein Redemptoristen-Kloster. Den Mönchen begegnete ich oft auf meinen Spaziergängen. Ich weiß noch, wie gerne ich von ihnen wäre angesprochen worden. Sie taten es nie. Und so trug ich von der Begegnung nur immer einen unbestimmten, aber feierlichen Eindruck davon, der mir immer lange nachging. Es war in meinem neunten Lebensjahre, da setzte sich in mir die Idee fest: im Zusammenhange mit den Aufgaben dieser Mönche müssen wichtige Dinge sein, die ich kennen lernen müsse. Auch da war es wieder so, daß ich voller Fragen war, die ich unbeantwortet mit mir herurmtragen mußte. Ja, diese Fragen über alles mögliche machten mich als Knaben recht einsam.
[ 23 ] An den Alpen-Vorbergen waren die beiden Schlösser Pitten und Frohsdorf sichtbar. In dem letztern wohnte zu jener Zeit der Graf Chambord, der im Beginne der siebziger Jahre als Heinrich der Fünfte hat König von Frankreich werden wollen. Es waren starke Eindrücke, die ich von dem Stück Leben empfing, das mit dem Schloß Frohsdorf verbunden war. Der Graf mit seinem Gefolge fuhr des öfteren von der Bahnstation Neudörfl ab. Alles an diesen Menschen zog meine Aufmerksamkeit an. Besonders tiefen Eindruck machte ein Mann des gräflichen Gefolges. Er hatte nur ein Ohr. Das andere war glatt hinweggehauen. Die darüberliegenden Haare hatte er geflochten. Ich erfuhr an diesem Anblick zum erstenmale, was ein Duell ist. Denn der Mann hatte das eine Ohr bei einem solchen eingebüßt.
[ 24 ] Auch ein Stück sozialen Lebens enthüllte sich mir im Zusammenhange mit Frohsdorf. Der Hilfslehrer von Neudörfl, in dessen Privatzimmerchen ich oft seinen Arbeiten zusehen durfte, verfertigte unzählige Bettelgesuche für die ärmeren Bewohner des Dorfes und der Umgegend an den Grafen Chambord. Auf jedes solches Gesuch hin kam ein Gulden als Unterstützung an, von dem der Lehrer für seine Mühe immer sechs Kreuzer behalten durfte. Diese Einnahme brauchte er. Denn sein Amt brachte ihm jährlich - achtundfünfzig Gulden ein. Dazu hatte er Morgenkaffee und Mittagstisch beim «Schulmeister». Er gab dann noch etwa zehn Kindern, unter denen auch ich war, «Extrastunden». Dafür zahlte man monatlich einen Gulden.
[ 25 ] Diesem Hilfslehrer verdanke ich viel. Nicht, daß ich von seinem Schulehalten viel gehabt hätte. Damit ging es mir nicht viel anders als in Pottschach. Ich wurde sogleich nach der Übersiedlung nach Neudörfl in die dortige Schule geschickt. Sie bestand aus einem Schulzimmer, in dem fünf Klassen, Knaben und Mädchen, zugleich unterrichtet wurden. Während die Buben, die in meiner Bankreihe saßen, die Geschichte vom König Arpad abschreiben mußten, standen die ganz kleinen an einer Tafel, auf der ihnen das i und u mit Kreide aufgezeichnet wurden. Es war schlechterdings unmöglich, etwas anderes zu tun, als die Seele stumpf brüten zu lassen und das Abschreiben mit den Händen fast mechanisch zu besorgen. Den ganzen Unterricht hatte der Hilfslehrer fast allein zu besorgen. Der «Schulmeister» erschien äußerst selten in der Schule. Er war zugleich Dorfnotär; und man sagte, er habe in diesem Amte so viel zu tun, daß er nie Schule halten könne.
[ 26 ] Und trotz alledem habe ich verhältnismäßig früh gut lesen gelernt. Dadurch konnte der Hilfslehrer mit etwas in mein Leben eingreifen, das für mich richtunggebend geworden ist. Bald nach meinem Eintreten in die Neudörfler Schule entdeckte ich in seinem Zimmer ein Geometriebuch. Ich stand so gut mit diesem Lehrer, daß ich das Buch ohne weiteres eine Weile zu meiner Benutzung haben konnte. Mit Enthusiasmus machte ich mich darüber her. Wochenlang war meine Seele ganz erfüllt von der Kongruenz, der Ähnlichkeit von Dreiecken, Vierecken, Vielecken; ich zergrübelte mein Denken mit der Frage, wo sich eigentlich die Parallelen schneiden; der pythagoreische Lehrsatz bezauberte mich.
[ 27 ] Daß man seelisch in der Ausbildung rein innerlich angeschauter Formen leben könne, ohne Eindrücke der äußeren Sinne, das gereichte mir zur höchsten Befriedigung. Ich fand darin Trost für die Stimmung, die sich mir durch die unbeantworteten Fragen ergeben hatte. Rein im Geiste etwas erfassen zu können, das brachte mir ein inneres Glück. Ich weiß, daß ich an der Geometrie das Glück zuerst kennen gelernt habe.
[ 28 ] In meinem Verhältnisse zur Geometrie muß ich das erste Aufkeimen einer Anschauung sehen, die sich allmählich bei mir entwickelt hat Sie lebte schon mehr oder weniger unbewußt in mir während der Kindheit und nahm um das zwanzigste Lebensjahr herum eine bestimmte, vollbewußte Gestalt an.
[ 29 ] Ich sagte mir: die Gegenstände und Vorgänge, welche die Sinne wahrnehmen, sind im Raume. Aber ebenso wie dieser Raum außer dem Menschen ist, so befindet sich im Innern eine Art Seelenraum, der der Schauplatz geistiger Wesenheiten und Vorgänge ist. In den Gedanken konnte ich nicht etwas sehen wie Bilder, die sich der Mensch von den Dingen macht, sondern Offenbarungen einer geistigen Welt auf diesem Seelen-Schauplatz. Als ein Wissen, das scheinbar von dem Menschen selbst erzeugt wird, das aber trotzdem eine von ihm ganz unabhängige Bedeutung hat, erschien mir die Geometrie. Ich sagte mir als Kind natürlich nicht deutlich, aber ich fühlte, so wie Geometrie muß man das Wissen von der geistigen Welt in sich tragen.
[ 30 ] Denn die Wirklichkeit der geistigen Welt war mir so gewiß wie die der sinnlichen. Ich hatte aber eine Art Rechtfertigung dieser Annahme nötig. Ich wollte mir sagen können, das Erlebnis von der geistigen Welt ist ebenso wenig eine Täuschung wie das von der Sinnenwelt. Bei der Geometrie sagte ich mir, hier darf man etwas wissen, was nur die Seele selbst durch ihre eigene Kraft erlebt; in diesem Gefühle fand ich die Rechtfertigung, von der geistigen Welt, die ich erlebte, ebenso zu sprechen wie von der sinnlichen. Und ich sprach so davon. Ich hatte zwei Vorstellungen, die zwar unbestimmt waren, die aber schon vor meinem achten Lebensjahr in meinem Seelenleben eine große Rolle spielten. Ich unterschied Dinge und Wesenheiten, «die man sieht» und solche, «die man nicht sieht».
[ 31 ] Ich erzähle diese Dinge wahrheitsgemäß, trotzdem die Leute, welche nach Gründen suchen, um die Anthroposophie für phantastisch zu halten, vielleicht daraus den Schluß ziehen werden, ich wäre eben als Kind schon phantastisch veranlagt gewesen; kein Wunder, daß dann auch eine phantastische Weltanschauung sich in mir ausbilden konnte.
[ 32 ] Aber gerade deshalb, weil ich weiß, wie wenig ich später meinen persönlichen Neigungen in der Schilderung einer geistigen Welt nachgegangen bin, sondern nur der inneren Notwendigkeit der Sache, kann ich selbst ganz objektiv auf die kindlich unbeholfene Art zurückblicken, wie ich mir durch die Geometrie rechtfertigte, daß ich doch von einer Welt sprechen mußte, «die man nicht sieht».
[ 33 ] Nur das muß ich auch sagen: ich lebte gerne in dieser Welt Denn ich hätte die Sinnenwelt wie eine geistige Finsternis um mich empfinden müssen, wenn sie nicht Licht von dieser Seite bekommen hätte.
[ 34 ] Der Hilfslehrer in Neudörfl lieferte mir mit seinem Geometriebuch die Rechtfertigung der geistigen Welt, die ich damals brauchte.
[ 35 ] Ich verdanke ihm aüch sonst sehr viel. Er brachte mir das künstlerische Element. Er spielte Violine und Klavier. Und er zeichnete viel. Beides zog mich stark zu ihm hin. Ich war, so viel es nur sein konnte, bei ihm. Besonders das Zeichnen liebte er; und er veranlaßte mich, schon im neunten Jahre mit Kohlenstiften zu zeichnen. Ich mußte unter seiner Anleitung auf diese Art Bilder kopieren. Lange saß ich zum Beispiel über dem Kopieren eines Porträts des Grafen Széchényi.
[ 36 ] Seltener in Neudörfl, aber oft in dem benachbarten Orte Sauerbrunn konnte ich den tiefgehenden Eindruck der ungarischen Zigeunermusik hören.
[ 37 ] Das alles spielte in eine Kindheit hinein, die in unmittelbarer Nähe der Kirche und des Friedhofes verlebt wurde. Der Neudörfler Bahnhof liegt wenige Schritte von der Kirche ab, und zwischen beiden ist der Friedhof.
[ 38 ] Ging man an dem Friedhof entlang und dann eine kurze Strecke weiter, so kam man in das eigentliche Dorf. Das bestand aus zwei Häuserreihen. Die eine begann mit der Schule, die andere mit dem Pfarrhof. Zwischen den beiden Häuserreihen floß ein Bächlein, und an dessen Seiten waren stattliche Nußbäume. An dem Verhältnis zu diesen Nußbäumen bildete sich eine Rangordnung unter den Kindern der Schule aus. Wenn die Nüsse anfingen, reif zu werden, so bewarfen die Buben und Mädchen die Bäume mit Steinen und setzten sich auf diese Art in den Besitz eines Wintervorrates von Nüssen. Im Herbste sprach keiner von viel anderem als von der Größe seiner Ausbeute an Nüssen. Wer am meisten erbeutet hatte, der war der angesehenste. Und dann ging es stufenweise nach abwärts - bis zu mir, dem letzten, der als «Fremder im Dorfe» kein Recht hatte, an dieser Rangordnung teilzunehmen.
[ 39 ] Beim Pfarrhof stieß im rechten Winkel an die Haupt-Häuserreihen des Dorfes, in denen die «großen Bauern» wohnten, eine Reihe von etwa zwanzig Häusern, in deren Besitz die «mittleren» Dorfeinwohner waren. Anstoßend an die Gärten, die zum Bahnhof gehörten, war dann noch eine Gruppe von Strohhäusern, der Besitz der «Kleinhäusler». Diese bildeten die unmittelbare Nachbarschaft meiner Familie. Die Wege vom Dorf aus führten nach den Feldern und Weinbergen, deren Eigentümer die Dorfleute waren. Bei Kleinhäusler-Leuten machte ich jedes Jahr die Weinlese und einmal eine Dorfhochzeit mit.
[ 40 ] Neben dem Hilfslehrer liebte ich von den Persönlichkeiten, die an der Schulleitung beteiligt waren, den Pfarrer. Er kam zweimal in der Woche regelmäßig zur Erteilung des Religionsunterrichtes und auch sonst öfter zur Inspektion in die Schule. Das Bild dieses Mannes hat sich tief in meine Seele eingeprägt; und er trat durch mein ganzes Leben hindurch immer wieder in meiner Erinnerung auf. Unter den Menschen, die ich bis zu meinem zehnten, oder elften Jahre kennen lernte, war er der weitaus bedeutendste. Er war energischer ungarischer Patriot. An der damals im Gange befindlichen Magyarisierung des ungarischen Gebietes nahm er lebhaften Anteil. Er schrieb aus dieser Gesinnung heraus Aufsätze in ungarischer Sprache, die ich dadurch kennen lernte, daß sie der Hilfslehrer ins Reine abschreiben mußte, und dieser mit mir, trotz meiner Jugend, über den Inhalt immer sprach. Der Pfarrer war aber auch ein tatkräftiger Arbeiter für die Kirche. Das trat mir einmal recht eindringlich durch eine Predigt vor die Seele.
[ 41 ] In Neudörfl war nämlich auch eine Freimaurerloge. Sie war vor den Dorfbewohnern in Geheimnis gehüllt, und von ihnen mit den allersonderbarsten Legenden umwoben worden. Die leitende Rolle in dieser Freimaurerloge hatte der Direktor einer am Ende des Dorfes gelegenen Zündwarenfabrik inne. Neben ihm kamen unter den Persönlichkeiten, die in unmittelbarer Nähe daran beteiligt waren, nur noch ein anderer Fabrikdirektor und ein Kleiderhändler in Betracht. Sonst merkte man die Bedeutung der Loge nur an der Tatsache, daß von Zeit zu Zeit «weither» fremde Gäste kamen, die den Dorfbewohnern im hohen Grade unheimlich vorkamen. Der Kleiderhändler war eine merkwürdige Persönlichkeit. Er ging stets mit gesenktem Kopfe, wie in Gedanken versunken. Man nannte ihn den «Simulierer», und man hatte durch seine Sonderbarkeit weder die Möglichkeit, noch das Bedürfnis, an ihn heranzukommen. Zu seinem Hause gehörte die Freimaurerloge.
[ 42 ] Ich konnte kein Verhältnis zu dieser Loge gewinnen. Denn nach der ganzen Art, wie sich die Menschen meiner Umgebung in dieser Hinsicht benahmen, mußte ich es auch da aufgeben, Fragen zu stellen; und dann wirkten die ganz abgeschmackten Reden, die der Zündwarenfabrikbesitzer über die Kirche führte, auf mich abstoßend.
[ 43 ] Der Pfarrer hielt nun eines Sonntags in seiner energischen Art eine Predigt, in der er die Bedeutung der wahren Sittlichkeit für das menschliche Leben auseinandersetzte und dann von den Feinden der Wahrheit in Bildern sprach, die von der Loge hergenommen waren. Dann ließ er seine Rede gipfeln in dem Satze: «Geliebte Christen, merket wer ein Feind dieser Wahrheit ist, zum Beispiel ein Freimaurer und ein Jude.» Für die Dorfleute waren damit der Fabrikbesitzer und der Kleiderhändler autoritativ gekennzeichnet. Die Tatkraft, mit der dies gesprochen wurde, gefiel mir ganz besonders.
[ 44 ] Auch diesem Pfarrer verdanke ich besonders durch einen starken Eindruck außerordentlich viel für meine spätere Geistesorientierung. Er kam einmal in die Schule, versammelte die «reiferen» Schüler, zu denen er mich rechnete, in dem kleinen Lehrerstübehen um sich, entfaltete eine Zeichnung, die er gemacht hatte, und erklärte uns an ihr das kopernikanische Weltsystem. Er sprach dabei sehr anschaulich über die Erdbewegung um die Sonne, über die Achsendrehung, die schiefe Lage der Erdachse und über Sommer und Winter, sowie über die Zonen der Erde. Ich war ganz von der Sache hingenommen, zeichnete tagelang sie nach, bekam dann von dem Pfarrer noch eine Spezialunterweisung über Sonnen- und Mondfinsternisse und richtete damals und weiter alle meine Wißbegierde auf diesen Gegenstand. Ich war damals etwa zehn Jahre alt und konnte noch nicht orthographisch und grammatikalisch richtig schreiben.
[ 45 ] Von tiefgehender Bedeutung für mein Knabenleben war die Nähe der Kirche und des um sie liegenden Friedhofes. Alles, was in der Dorfschule geschah, entwickelte sich im Zusammenhange damit. Das war nicht nur durch die in jener Gegend damals herrschenden sozialen und staatlichen Verhältnisse bewirkt, sondern vor allem dadurch, daß der Pfarrer eine bedeutende Persönlichkeit war. Der Hilfslehrer war zugleich Orgelspieler der Kirche, Kustos der Meßgewänder und der anderen Kirchengeräte; er leistete dem Pfarrer alle Hilfsdienste in der Versorgung des Kultus. Wir Schulknaben hatten den Ministranten- und Chordienst zu verrichten bei Messen, Totenfeiern und Leichenbegängnissen. Das Feierliche der lateinischen Sprache und des Kultus war ein Element, in dem meine Knabenseele gerne lebte. Ich war dadurch, daß ich an diesem Kirchendienste bis zu meinem zehnten Jahre intensiv teilnahm, oft in der Umgebung des von mir so geschätzten Pfarrers.
[ 46 ] In meinem Elternhause fand ich in dieser meiner Beziehung zur Kirche keine Anregung. Mein Vater nahm daran keinen Anteil. Er war damals «Freigeist». Er ging nie in die Kirche, mit der ich so verwachsen war; und trotzdem ja auch er während seiner Knaben- und JüngIingsjahre einer solchen ergeben und dienstbar war. Das änderte sich bei ihm erst wieder, als er als alter Mann, in Pension, nach Horn, seiner Heimatgegend, zurückzog. Da wurde er wieder ein «frommer Mann». Nur war ich damals längst außer allem Zusammenhang mit dem Elternhause.
[ 47 ] Mir steht von meiner Neudörfler Knabenzeit stark dieses vor der Seele, wie die Anschauung des Kultus in Verbindung mit der musikalischen Opferfeierlichkeit vor dem Geiste in stark suggestiver Art die Rätselfragen des Daseins aufsteigen läßt. Der Bibel- und Katechismus-Unterricht, den der Pfarrer erteilte, war weit weniger wirksam innerhalb meiner Seelenwelt als das, was er als Ausübender des Kultus tat in Vermittelung zwischen der sinnlichen und der übersinnlichen Welt. Von Anfang an war mir das alles nicht eine bloße Form, sondern tiefgehendes Erlebnis. Das war um so mehr der Fall, als ich damit im Elternhause ein Fremdling war. Mein Gemüt verließ das Leben, das ich mit dem Kultus aufgenommen hatte, auch nicht bei dem, was ich in meiner häuslichen Umgehung erlebte. Ich lebte ohne Anteil an dieser Umgebung. Ich sah sie; aber ich dachte, sann und empfand eigentlich fortwährend mit jener anderen Welt. Dabei darf ich aber durchaus sagen, daß ich kein Träumer war, sondern mich in alle lebenspraktischen Verrichtungen wie selbstverständlich hineinfand.
[ 48 ] Einen völligen Gegensatz zu dieser meiner Welt bildete auch das Politisieren meines Vaters. Er wurde von einem andern Beamten im Dienstturnus abgelöst. Dieser wohnte auf einer anderen Eisenbahnstation, die er mitversorgte. Er traf in Neudörfl nur alle zwei oder drei Tage ein. In den unbeschäftigten Abendstunden politisierten mein Vater und er. Es geschah das an dem Tisch, der neben dem Bahnhof unter zwei mächtigen, wundervollen Lindenbäumen stand. Da waren die ganze Familie und der fremde Beamte versammelt. Die Mutter strickte oder häkelte; meine Geschwister tummelten sich; ich saß oft an dem Tisch und hörte dem unaufhörlichen Politisieren der beiden Männer zu. Mein Anteil bezog sich aber nie auf den Inhalt dessen, was sie sprachen, sondern auf die Form, welche das Gespräch annahm. Sie waren immer uneinig; wenn der eine «Ja» sagte, erwiderte der andere «Nein». Alles das aber spielte sich immer zwar im Zeichen der Heftigkeit, ja Leidenschaftlichkeit ab, aber auch in dem der Gutmütigkeit, die ein Grundzug im Wesen meines Vaters war.
[ 49 ] In dem kleinen Kreise, der da öfter versammelt war, und in dem sich oft «Honoratioren» des Ortes einfanden, erschien zuweilen ein Arzt aus Wiener-Neustadt. Er behandelte viele Kranke des Ortes, in dem damals kein Arzt war. Er machte den Weg von Wiener-Neustadt nach Neudörfl zu Fuß, und kam dann, nachdem er bei seinen Kranken war, nach dem Bahnhof, um den Zug abzuwarten, mit dem er zurückkehrte. Dieser Mann galt in meinem Elternhause und bei den meisten Leuten, die ihn kannten, als ein Sonderling. Er sprach nicht gerne von seinem medizinischen Berufe, aber um so lieber von deutscher Literatur. Von ihm habe ich zuerst über Lessing, Goethe, Schiller sprechen gehört. In meinem Elternhause war davon nie die Rede. Man wußte davon nichts. Auch in der Dorfschule kam davon nichts vor. Es war da alles auf ungarische Geschichte eingestellt. Pfarrer und Hilfslehrer hatten kein Interesse für die Größen der deutschen Literatur. Und so kam es, daß mit dem Wiener-Neustädtler Arzt eine ganz neue Welt in meinen Gesichtskreis einzog. Der beschäftigte sich gerne mit mir, nahm mich oft, nachdem er kurze Zeit unter den Linden ausgeruht hatte, beiseite, ging mit mir auf dem Bahnhofplatze auf und ab und sprach, nicht in dozierender, aber enthusiastischer Art von deutscher Literatur. Er entwickelte dabei allerlei Ideen über dasjenige, was schön, was häßlich ist.
[ 50 ] Es ist mir auch dies ein Bild geblieben, das in meinem ganzen Leben in meiner Erinnerung Festesstunden feierte: der hochgewachsene, schlanke Arzt, mit seinem kühn ausschreitenden Gange, stets mit dem Regenschirm in der rechten Hand, den er so hielt, daß er neben dem Oberkörper schlenkerte, an der einen Seite, und ich zehnjähriger Knabe, an der andern Seite, ganz hingegeben dem, was der Mann sagte.
[ 51 ] Neben alledem beschäftigten mich die Einrichtungen der Eisenbahn stark. Am Stationstelegraphen lernte ich die Gesetze der Elektrizitätslehre zunächst in der Anschauung kennen. Auch das Telegraphieren lernte ich schon als Knabe.
[ 52 ] In der Sprache bin ich ganz aus dem deutschen Dialekt herausgewachsen, der in dem östlichen Niederösterreich gesprochen wird. Der war im wesentlichen auch derjenige, der damals noch in den an Niederösterreich angrenzenden Gegenden Ungarns üblich war. Mein Verhältnis war ein ganz anderes zum Lesen als zum Schreiben. Ich las in meiner Knabenzeit über die Worte hinweg; ging mit der Seele unmittelbar auf Anschauungen, Begriffe und Ideen, so daß ich vom Lesen gar nichts für die Entwickelung des Sinnes für orthographisches und grammatikalisches Schreiben hatte. Dagegen hatte ich beim Schreiben den Drang, genau die Wortbilder so in Lauten festzuhalten, wie ich sie als Dialektworte zumeist hörte. Dadurch bekam ich nur unter den größten Schwierigkeiten einen Zugang zum Schreiben der Schriftsprache; während mir deren Lesen vom Anfange an ganz leicht war.
[ 53 ] Unter solchen Einflüssen wuchs ich heran zu dem Lebensalter, in dem für meinen Vater die Frage zu lösen war, ob er mich in das Gymnasium oder die Realschule in Wiener-Neustadt geben solle. Von da ab hörte ich zwischen der Politik viel mit andern über mein künftiges Lebensschicksal sprechen. Da wurde meinem Vater dieser oder jener Rat gegeben; ich wußte schon damals: er hört gerne, was die andern sagen; aber er handelt nach seinem eigenen, fest empfundenen Willen.
Chapter I
[ 1 ] For some time now, information and assessments about the course of my life have been interwoven into the public discussions of the anthroposophy I cultivate. And from what has been said in this direction, conclusions have been drawn about the origin of what are regarded as changes in my spiritual development. In contrast, friends have expressed the view that it would be good if I myself wrote something about the course of my life.
[ 2 ] I must confess that this is not my inclination. For it has always been my endeavor to shape what I had to say and what I thought I should do in a way that was demanded by things, not by my own personal interests. It has always been my opinion that the personal gives the most valuable coloring to human activities in many areas. It seems to me, however, that this personal aspect must be revealed through the way one speaks and acts, not by looking at one's own personality. What can result from this reflection is a matter that man has to come to terms with himself.
[ 3 ] And so I can only decide to give the following account because I am obliged to put many a skewed judgment about the connection between my life and the matter I have cultivated in the right light through an objective description, and because the urging of kindly-minded people with regard to these judgments seems justified to me. My parents had their home in Lower Austria. My father was born in Geras, a very small town in the Waldviertel region of Lower Austria, and my mother in Horn, a town in the same area.
[ 4 ] My father spent his childhood and youth in close connection with the Premonstratensian monastery in Geras. He always looked back on this time of his life with great fondness. He liked to talk about how he had served in the monastery and how he had been taught by the monks. He later became a hunter in the service of the Count of Hoyos. This family had an estate in Horn. That's where my father met my mother. He then left the hunting service and joined the Austrian Southern Railway as a telegraph operator. He was initially employed at a small railroad station in southern Styria. He was then transferred to Kraljevec on the Hungarian-Croatian border. It was during this time that he married my mother. Her maiden name was Blie. She came from an old Horner family. I was born in Kraljevec on February 27, 1861. - That's how my birthplace came to be so far away from the region I come from.
[ 5 ] Both my father and my mother were genuine children of the beautiful Lower Austrian woodland north of the Danube. It is an area where the railroad only arrived late. Geras is still untouched by it today. - My parents loved what they had experienced at home. And when they talked about it, you could instinctively feel how they had not left this homeland with their souls, even though fate had destined them to spend most of their lives far away from it. When my father retired after a busy life, they immediately moved back there - to Horn.
[ 6 ] My father was a thoroughly benevolent man, but with a temperament that could flare up passionately, especially when he was young. Railroad service was his duty; he was not fond of it. When I was still a boy, he had to work for three days and three nights at a time. Then he was relieved for twenty-four hours. So life offered him nothing colorful, only grayness. He liked to follow political events. He took the liveliest interest in them. My mother had to be absorbed in the management of domestic affairs, as there were no fortune goods. Loving care of her children and the small economy filled her days.
[ 7 ] When I was a year and a half old, my father was transferred to Mödling near Vienna. My parents stayed there for six months. Then my father was put in charge of the small southern railway station at Pottschach in Lower Austria, near the Styrian border. I spent the time from my second to my eighth year there. My childhood was surrounded by a wonderful landscape. The view was of the mountains that connect Lower Austria with Styria: The "Schneeberg", Wechsel, the Raxalpe, the Semmering. The Schneeberg, with its bare rock at the top, caught the sun's rays, and what they proclaimed when they shone down from the mountain towards the small railroad station was the first morning greeting on beautiful summer days. The gray ridge of the "Wechsel" formed a serious contrast. The greenery, which smiled friendly from everywhere in this landscape, made the mountains seem to rise out of themselves. The majesty of the peaks could be seen in the distance, and the grace of nature in the immediate surroundings.
[ 8 ] At the small station, however, all interest was focused on the railroad. At that time, the trains only ran at long intervals in this area, but when they did come, a number of people from the village who had time to spare would usually gather at the station to bring some variety into their lives, which otherwise seemed monotonous. The school teacher, the vicar, the accountant of the estate, often the mayor appeared there.
[ 9 ] I believe that it was significant for my life to have spent my childhood in such an environment. Because my interests were strongly drawn into the mechanics of this existence. And I know how these interests always wanted to darken the part of the heart in the child's soul that went towards the graceful and at the same time generous nature into which, in the distance, these railroad trains subject to the mechanism disappeared every time.
[ 10 ] Into all this played the impression of a personality of great originality: that of the parish priest of St. Valentin, a place that could be reached on foot in about three quarters of an hour from Pottschach. This priest liked to come to my parents' house. He took his walk to us almost every day and always stayed for a long time. He was the type of liberal Catholic priest, tolerant and affable. A robust, broad-shouldered man. He was funny, liked to talk in jokes and loved it when people laughed around him. And they continued to laugh at what he had said long after he had gone. He was a man of practical life; and he also liked to give good practical advice. Such advice has had a lasting effect on my family. The railroad tracks in Pottschach were bordered by acacia trees (Robinia). We once walked along the narrow footpath that ran alongside this row of trees. He said: "Oh, what beautiful acacia blossoms there are." And he quickly swung himself up one of the trees and plucked a large quantity of these blossoms. Then he spread out his very large red handkerchief - he sniffed passionately -, carefully wrapped up the booty and took the "little tinkle" under his arm. Then he said: "It's a good thing you have so many acacias." My father was astonished and replied: "Yes, what use are they to us?" "What," said the priest, "don't you know that you can bake acacia blossoms like elderberry, and that they taste much better because they have a much more delicate aroma." And from that time on, we often had "baked acacia blossoms" on our family table from time to time when we had the opportunity.
[ 11 ] In Pottschach, another daughter and a son were born to my parents. There was no further expansion of the family.
[ 12 ] I had a strange peculiarity as a very small boy. From the time I was able to eat on my own, I had to be watched very carefully. Because I had formed the opinion that a soup plate or a coffee cup was only meant to be used once. And so, every time I was left unattended, I would throw my plate or cup under the table after eating so that it broke into shards. When my mother approached, I would greet her with the exclamation: "Mother, I'm finished already."
[ 13 ] This could not have been destructiveness on my part. Because I treated my toys with meticulous care and kept them in good condition for a long time. Among these toys, I was particularly fascinated by those that I still consider to be particularly good today. They were picture books with moving figures that could be pulled by strings at the bottom. You followed little stories through these pictures, which you gave a part of their life by pulling the strings yourself. I often sat in front of these picture books for hours with my sister. I also learned the basics of reading from them, as if by myself.
[ 14 ] My father made sure that I learned to read and write at an early age. When I reached school age, I was sent to the village school. The school teacher was an old gentleman who found teaching a tiresome occupation. For me, however, being taught by him was also a chore. I didn't believe that I could learn anything from him. Because he often came to our house with his wife and his little son. And this little son was a rascal by my standards at the time. So I got it into my head that if you have such a rascal for a son, you can't learn anything from him. But then something "quite terrible" happened. Once this rascal, who was also at school, had the fun of dipping a wooden chip into all the inkwells in the school and making circles of ink blots around them. The father noticed this. Most of the pupils had already left. I, the teacher's son and a few more boys had stayed behind. The teacher was furious and scolded us terribly. I was convinced he would even have "shouted" if he hadn't been constantly hoarse. Despite his raving, our behavior made him realize who the culprit was. But things turned out differently. The teacher's apartment adjoined the classroom. The "head teacher" had heard the commotion, came in, her eyes wild and waving her arms. It was clear to her that her little son couldn't have shot the thing. She accused me. I ran away. My father was furious when I brought the matter home. And when the teachers came back to us, he terminated their friendship with the greatest clarity and declared: "My boy must not set foot in your school again." And now my father took over the lessons himself. And so I sat next to him in his office for hours on end, writing and reading while he carried out his official duties in between.
[ 15 ] I couldn't really get him interested in what I was supposed to learn through the lessons. I was interested in what my father wrote. I wanted to copy what he did. I learned a lot in the process. I couldn't relate to what he had prepared for me to do for my education. On the other hand, I grew into everything that was a practical life activity in a childlike way. How the railroad service worked and everything connected with it attracted my attention. But it was particularly the natural law that attracted me, especially in its small offshoots. When I wrote, I did it because I had to; I even did it as quickly as possible so that I would soon have filled a page. Because now I could sprinkle what I had written with grit, which my father used. I was fascinated by how quickly the grit dried up with the ink and the mixture of materials it created. I kept trying out the letters with my fingers; which ones were already dry and which ones were not. My curiosity was very great, and as a result I usually got to the letters too early. As a result, my handwriting samples took on a shape that my father didn't like at all. But he was good-natured and only punished me by often calling me an incorrigible "slip-up". - But this was not the only thing that developed from my writing. I was more interested in the shape of the quill than the shape of my letters. When I took my father's paper knife, I could drive it into the slit of the nib and make physical studies of the elasticity of the nib material. I then bent the nib back together again, but the beauty of my writing suffered greatly as a result.
[ 16 ] This was also the time when I, with my sense of knowledge of natural processes, was placed in the middle between seeing through a connection and the "limits of knowledge". There was a mill about three minutes away from my parents' house. The millers were my siblings' godparents. We were very popular at the mill. I often disappeared there. Because I "studied" the mill with enthusiasm. That's when I got into the "inner workings of nature". But a spinning factory was even closer. The raw materials for this arrived at the train station; the finished products left. I was there to see everything that disappeared into the factory and everything that emerged from it. It was strictly forbidden to look "inside". It never happened. There were the "limits of knowledge". And I would have loved to cross these boundaries. Because almost every day, the director of the factory came to my father on business matters. And this director was a problem for me as a boy, who covered the secret of the "inside" of the factory as if it were a miracle. He was covered with white flakes on many parts of his body; he had eyes that had acquired a certain immobility from the machinery. He spoke harshly, as if in a mechanized language. "How is this man connected with what those walls enclose?" This insoluble problem stood before my soul. But I didn't ask anyone about the secret. For it was my boyish opinion that it was of no use to ask about something that one could not see. So I lived between the friendly mill and the unfriendly spinning mill.
[ 17 ] Once there was something quite "shocking" at the train station. A train with freight was rushing towards us. My father looked towards it. A rear carriage was on fire. The train crew hadn't noticed. The train came right up to our station on fire. Everything that happened there made a deep impression on me. A highly flammable substance had caused a fire in one of the carriages. For a long time, I wondered how this could happen. What my surroundings told me about it was, as in similar matters, not satisfactory to me. I was full of questions and had to carry them around with me unanswered. That's how I became eight years old.
[ 18 ] When I was eight years old, my family moved to Neudörfl, a small Hungarian village. It lies directly on the border with Lower Austria. This border is formed by the Laytha River. The train station that my father had to get to was at one end of the village. It took half an hour to walk to the border river. After another half an hour you came to Wiener-Neustadt.
[ 19 ] The Alpine mountains that I had seen nearby in Pottschach were now only visible in the distance. But they still stood reminiscently in the background when you looked at the smaller mountains that were within a short distance of my family's new home. Moderate elevations with beautiful woodland bordered one view; the other could wander over flat land covered with fields and forest into Hungary. Of the mountains, I was particularly fond of the unlimited one, which could be climbed in three quarters of an hour. It had a chapel on its summit, in which there was an image of St. Rosalia. This chapel was the end point of a walk that I often took with my parents and siblings at first and later enjoyed doing on my own. Such walks were also particularly enjoyable because you could return at the appropriate time of year with an abundance of nature's gifts. Blackberries, raspberries and strawberries could be found in the woods. It was often a source of great satisfaction to spend an hour and a half picking them to add a nice addition to the family evening meal, which otherwise consisted of just a sandwich or a piece of bread with cheese for everyone.
[ 20 ] There were other pleasurable things to come from roaming these woods, which were communal property. The people of the village collected their wood from there. The poorer ones collected it personally, the wealthier ones had it collected by servants. You got to know them all, these mostly jovial people. Because they always had time to chat when "Steiner-Rudolf" joined them. "Well, Steiner-Rudolf, you want to have a bit of a chat again," was how it started, and then they talked about all sorts of things. The people paid no attention to the fact that they had a child in front of them. Because they were still children in their souls, even though they were already sixty years old. And so, from these stories, I actually knew almost everything that was going on inside the houses of this village.
[ 21 ] A half hour's walk from Neudörfl is Sauerbrunn with its spring of iron and carbonated water. The way there goes along the railroad line and partly through beautiful forests. When there were school vacations, I went there early in the morning every day, loaded down with a "Blutzer". That's a water container made of clay. Mine held about three to four liters. You could fill it at the spring for free. At lunchtime, the family could then enjoy the tasty sparkling water.
[ 22 ] Towards Wiener Neustadt and further towards Styria, the mountains descend into the plain. The Laytha River meanders through them. There was a Redemptorist monastery on the mountainside. I often met the monks on my walks. I remember how much I would have liked to have been approached by them. But they never did. And so all I ever took away from the encounter was a vague but solemn impression that stayed with me for a long time. It was in my ninth year that the idea took root in me: there must be important things in connection with the tasks of these monks that I had to get to know. Again, I was full of questions that I had to carry around with me unanswered. Yes, these questions about all sorts of things made me quite lonely as a boy.
[ 23 ] The two castles of Pitten and Frohsdorf were visible on the foothills of the Alps. At that time, Count Chambord, who wanted to become King of France as Henry the Fifth at the beginning of the seventies, lived in the latter. The impressions I received from the piece of life associated with Frohsdorf Castle were powerful. The count and his entourage often departed from the Neudörfl train station. Everything about these people attracted my attention. One man in the count's entourage made a particularly deep impression. He only had one ear. The other was cut away. The hair above it was braided. It was at this sight that I first learned what a duel was. Because the man had lost one ear in one of them.
[ 24 ] A piece of social life was also revealed to me in connection with Frohsdorf. The assistant teacher of Neudörfl, in whose private room I was often allowed to watch his work, made countless begging requests to Count Chambord on behalf of the poorer inhabitants of the village and the surrounding area. Each such request received one guilder in support, from which the teacher was always allowed to keep six kreuzer for his efforts. He needed this income. Because his office brought him fifty-eight guilders a year. He also had morning coffee and lunch with the "schoolmaster". He then gave "extra lessons" to about ten children, including me. They paid one guilder a month for this.
[ 25 ] I owe a lot to this assistant teacher. Not that I got much out of his schooling. I was not much different than in Pottschach. Immediately after moving to Neudörfl, I was sent to the school there. It consisted of one classroom in which five classes, boys and girls, were taught at the same time. While the boys, who sat in my row of benches, had to copy the story of King Arpad, the very young ones stood at a blackboard on which the i and u were written in chalk. It was absolutely impossible to do anything other than let the soul brood dully and do the copying with the hands almost mechanically. The assistant teacher had to do almost all the teaching alone. The "schoolmaster" rarely came to school. He was also the village notary; and it was said that he had so much to do in this office that he could never hold school.
[ 26 ] And despite all this, I learned to read relatively early on. This allowed the assistant teacher to intervene in my life in a way that set the course for me. Soon after joining the Neudörfl school, I discovered a geometry book in his room. I was on such good terms with this teacher that I could easily use the book for a while. I took to it with enthusiasm. For weeks my soul was filled with the congruence, the similarity of triangles, quadrilaterals, polygons; I puzzled my mind with the question of where the parallels actually intersect; the Pythagorean theorem enchanted me.
[ 27 ] The fact that one could live mentally in the formation of purely inner forms, without impressions from the outer senses, gave me the greatest satisfaction. I found comfort in this for the mood that had arisen from the unanswered questions. To be able to grasp something purely in my mind brought me inner happiness. I know that I first got to know happiness through geometry.
[ 28 ] In my relationship to geometry, I must see the first sprouting of a view that gradually developed in me It already lived more or less unconsciously in me during childhood and took on a certain, fully conscious form around the age of twenty.
[ 29 ] I said to myself: the objects and processes that the senses perceive are in space. But just as this space is outside the human being, there is a kind of soul space inside, which is the scene of spiritual entities and processes. In the thoughts I could not see anything like pictures that man makes of things, but revelations of a spiritual world in this soul-space. Geometry appeared to me as knowledge that is apparently generated by man himself, but which nevertheless has a meaning quite independent of him. As a child, of course, I did not tell myself clearly, but I felt that, like geometry, one must carry the knowledge of the spiritual world within oneself.
[ 30 ] For the reality of the spiritual world was as certain to me as that of the sensual world. But I needed some kind of justification for this assumption. I wanted to be able to say to myself that the experience of the spiritual world is no more an illusion than that of the sensory world. With geometry I said to myself that here one may know something that only the soul itself experiences through its own power; in this feeling I found the justification to speak of the spiritual world, which I experienced, in the same way as of the sensual world. And I spoke of it in this way. I had two ideas which, although undefined, had already played a major role in my mental life before I was eight years old. I distinguished between things and entities "that one sees" and those "that one does not see".
[ 31 ] I am telling these things truthfully, although people who are looking for reasons to think anthroposophy is fantastic will perhaps draw the conclusion that I was already fantastically inclined as a child; no wonder then that a fantastic world view was able to develop in me.
[ 32 ] But precisely because I know how little I later pursued my personal inclinations in the description of a spiritual world, but only the inner necessity of the matter, I myself can look back quite objectively on the childishly clumsy way in which I justified to myself through geometry that I had to speak of a world "that one does not see".
[ 33 ] I must also say this: I liked living in this world because I would have felt the sensory world around me like a spiritual darkness if it had not received light from this side.
[ 34 ] The assistant teacher in Neudörfl, with his geometry book, provided me with the justification of the spiritual world that I needed at that time.
[ 35 ] I also owe him a lot in other ways. He brought the artistic element to me. He played the violin and piano. And he drew a lot. Both drew me strongly to him. I was with him as much as I could be. He especially loved drawing; and he made me draw with charcoal pencils from the age of nine. I had to copy pictures in this way under his guidance. For example, I sat for a long time copying a portrait of Count Széchényi.
[ 36 ] Seldom in Neudörfl, but often in the neighboring town of Sauerbrunn, I could hear the profound impression of Hungarian gypsy music.
[ 37 ] This all played into a childhood spent in the immediate vicinity of the church and the cemetery. The Neudörfl train station is just a few steps away from the church, and between the two is the cemetery.
[ 38 ] If you walked along the cemetery and then a short distance further, you came to the actual village. This consisted of two rows of houses. One began with the school, the other with the vicarage. A small stream flowed between the two rows of houses, and on its sides were stately walnut trees. The relationship to these nut trees formed a hierarchy among the children of the school. When the nuts began to ripen, the boys and girls would throw stones at the trees and thus acquire a winter supply of nuts. In autumn, no one talked about much other than the size of their haul of nuts. Whoever had taken the most was the most respected. And then it went downwards step by step - right down to me, the last one, who as a "stranger in the village" had no right to participate in this hierarchy.
[ 39 ] At the vicarage, at right angles to the main rows of houses in the village, where the "big farmers" lived, was a row of about twenty houses owned by the "middle" villagers. Adjacent to the gardens belonging to the station was a group of thatched houses, owned by the "smallholders". These were my family's immediate neighbors. The paths from the village led to the fields and vineyards owned by the villagers. I attended the grape harvest every year at the Kleinhäusler's and once a village wedding.
[ 40 ] In addition to the assistant teacher, I loved the priest among the people who were involved in running the school. He regularly came to the school twice a week to give religious education lessons and also often came to inspect the school. The image of this man is deeply imprinted in my soul and he kept reappearing in my memory throughout my life. Of all the people I got to know up to my tenth or eleventh year, he was by far the most important. He was an energetic Hungarian patriot. He took a lively interest in the Magyarization of the Hungarian territory, which was underway at the time. He wrote essays in Hungarian based on this sentiment, which I got to know through the fact that the assistant teacher had to copy them into plain language, and despite my youth, he always discussed the content with me. But the priest was also an energetic worker for the church. This was once brought home to me quite forcefully in a sermon.
[ 41 ] There was also a masonic lodge in Neudörfl. It was shrouded in secrecy from the villagers, who surrounded it with the most incredible legends. The leading role in this masonic lodge was held by the director of a flint factory at the end of the village. Apart from him, the only other personalities involved in the immediate vicinity were another factory director and a clothes dealer. Otherwise, the importance of the lodge could only be recognized by the fact that from time to time strange guests came "from afar", who seemed highly uncanny to the villagers. The clothes dealer was a strange personality. He always walked with his head down, as if lost in thought. He was known as the "simulator", and because of his peculiarity, people had neither the opportunity nor the need to approach him. The masonic lodge belonged to his house.
[ 42 ] I was unable to establish a relationship with this lodge. For after the whole way in which the people around me behaved in this respect, I had to give up asking questions there too; and then the very tasteless speeches that the owner of the ignition factory made about the church had a repulsive effect on me.
[ 43 ] One Sunday the pastor preached a sermon in his energetic manner, in which he discussed the importance of true morality for human life and then spoke of the enemies of truth in images taken from the Lodge. He then culminated his speech with the sentence: "Beloved Christians, notice who is an enemy of this truth, for example a Freemason and a Jew." For the villagers, this authoritatively identified the factory owner and the clothes merchant. I particularly liked the vigor with which this was spoken.
[ 44 ] I also owe a great deal to this pastor for my later spiritual orientation, especially because of his strong impression. He once came to school, gathered the "more mature" pupils, among whom he counted me, in the small teachers' lounge, unfolded a drawing he had made and used it to explain the Copernican world system to us. He spoke very clearly about the earth's movement around the sun, about the rotation of the axis, the inclined position of the earth's axis and about summer and winter, as well as about the earth's zones. I was completely taken in by the subject, traced it for days on end, then received special instruction from the priest on solar and lunar eclipses and focused all my curiosity on this subject. I was about ten years old at the time and could not yet write correctly orthographically and grammatically.
[ 45 ] The proximity of the church and the cemetery around it was of profound significance for my boyhood. Everything that happened in the village school developed in connection with it. This was not only due to the social and state conditions prevailing in the area at the time, but above all to the fact that the parish priest was an important personality. The assistant teacher was also the church organist, custodian of the vestments and other church equipment; he provided the parish priest with all the assistance he needed in the care of the cult. We schoolboys had to serve as altar servers and choir members at masses, funerals and funeral services. The solemnity of the Latin language and the cult was an element in which my boyish soul loved to live. Because I participated intensively in this church service until my tenth year, I was often in the company of the priest whom I held in such high esteem.
[ 46 ] In my parental home, I found no encouragement in my relationship with the church. My father took no part in it. He was a "free spirit" back then. He never went to church, with which I had grown so close; and yet he too was devoted to it during his boyhood and youth. That only changed for him again when he moved back to Horn, his home region, as an old man in retirement. Then he became a "pious man" again. But I had long since lost all connection with my parents' home.
[ 47 ] From my boyhood in Neudörfl, I have a strong impression of how the contemplation of the cult in connection with the musical celebration of sacrifice raises the mysteries of existence before the mind in a strongly suggestive way. The Bible and catechism lessons given by the priest were far less effective within the world of my soul than what he did as a practitioner of the cult in mediating between the sensual and the supersensible world. From the very beginning, all this was not a mere form to me, but a profound experience. This was all the more the case as I was a stranger in my parents' home. My mind did not leave the life I had taken up with the cult, even in what I experienced in my domestic surroundings. I lived without a share in these surroundings. I saw it; but I thought, pondered and actually felt with that other world all the time. At the same time, however, I can say that I was not a dreamer, but found my way into all practical life activities as a matter of course.
[ 48 ] My father's politicking also formed a complete contrast to this world of mine. He was replaced by another civil servant on duty. He lived at another railroad station, which he also supplied. He only arrived in Neudörfl every two or three days. In the idle evening hours, he and my father talked politics. It happened at the table that stood next to the station under two mighty, beautiful lime trees. The whole family and the foreign official were gathered there. My mother was knitting or crocheting; my siblings were playing around; I often sat at the table and listened to the incessant politicking of the two men. However, my participation never related to the content of what they were saying, but to the form the conversation took. They were always at odds; when one said "yes", the other replied "no". But all of this always took place under the sign of vehemence, even passion, but also under the sign of good-naturedness, which was a basic trait in my father's nature.
[ 49 ] A doctor from Wiener-Neustadt sometimes appeared in the small circle that often gathered there, which was often attended by local "notables". He treated many sick people in the village, where there was no doctor at the time. He made the journey from Wiener-Neustadt to Neudörfl on foot and then, after seeing his patients, came to the station to wait for the train on which he was returning. This man was considered an oddball in my parents' house and by most of the people who knew him. He didn't like talking about his medical profession, but he liked talking about German literature all the more. I first heard him talk about Lessing, Goethe and Schiller. There was never any talk of this in my parents' house. They knew nothing about it. There was nothing about it in the village school either. Everything there was focused on Hungarian history. Pastors and assistant teachers had no interest in the greats of German literature. And so it was that the doctor from Vienna-Neustädt brought a whole new world into my circle of vision. He liked to spend time with me, often took me aside after a short rest under the lime trees, walked up and down the station square with me and talked, not in a lecturing but enthusiastic way, about German literature. He developed all kinds of ideas about what is beautiful and what is ugly.
[ 50 ] This is another image that has remained in my memory throughout my life: the tall, slender doctor, with his boldly striding gait, always with the umbrella in his right hand, which he held so that it swung next to his upper body, on one side, and me, a ten-year-old boy, on the other, completely devoted to what the man was saying.
[ 51 ] In addition to all this, I was very interested in the railroad facilities. At the station telegraph, I first learned the laws of electricity from observation. I also learned to telegraph as a boy.
[ 52 ] In terms of language, I grew out of the German dialect spoken in eastern Lower Austria. This was essentially the dialect that was still common in the areas of Hungary bordering Lower Austria at the time. My relationship to reading was very different from my relationship to writing. In my boyhood I read beyond the words; my soul went directly to views, concepts and ideas, so that I had nothing from reading for the development of the sense of orthographic and grammatical writing. In writing, on the other hand, I had the urge to capture the exact word images in sounds as I usually heard them as dialect words. As a result, it was only with the greatest difficulty that I was able to write the written language, whereas reading it was very easy for me right from the start.
[ 53 ] Under such influences, I grew up to the age at which my father had to decide whether to send me to grammar school or secondary school in Wiener Neustadt. From then on, I heard a lot of talk with others about my future destiny in between politics. My father was given this or that advice; I knew even then: he likes to listen to what others say, but he acts according to his own firmly felt will.